WELT – Mut zur Deregulierung

Interview mit Abdulaziz Ramadan Von Alan Posener | Veröffentlicht am 12.11.2015 | Lesedauer: 5 Minuten

Das Chaos bei der Aufnahme von Flüchtlingen müsste nicht sein, wenn wir gelassener im Umgang mit ihnen wären. Die USA machen das besser, davon könnten wir viel lernen

 

Als die syrische Geheimpolizei Abdulaziz Ramadan zum Gespräch einlud, beschloss er, Damaskus zu verlassen. Er konnte die Grenzbeamten bestechen und die Türkei erreichen. In Istanbul arbeitete er weiter in der Union of Free Syrian Students, die für den friedlichen Wandel in der Heimat streitet. Vor drei Jahren kam er nach Deutschland. Der Liebe wegen. Nun studiert er in Halle, lebt in Leipzig, möchte die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen und ist nach wie vor aktiv in der syrischen Studentenbewegung.

Um Abdulaziz muss sich niemand Sorgen machen. Er ist jung, gebildet und fleißig. Er spricht Arabisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch und Deutsch. Dass solche Leute aus Syrien vertrieben werden, ist eine Katastrophe für das Land, für Europa jedoch ein Gewinn. Abdulaziz könnte sich auf seine Karriere konzentrieren; er macht sich aber Sorgen um die Flüchtlinge, die ins Land kommen. Er bewundert die Großzügigkeit der Deutschen, findet aber, dass sie „überplanen“, zu viel organisieren. Wie bitte? Die Medien sind voller Berichte über Chaos an den Grenzen, überarbeitete Polizisten, Beamte am Ende ihrer Kraft und Helfer am Rande des Zusammenbruchs. „Wir schaffen das“ – Merkels Machtwort klingt angesichts solcher Verhältnisse wie Hohn, und von Überorganisierung zu reden, scheint angesichts einer völlig überforderten Bürokratie absurd. Doch Abdulaziz meint, gerade der Versuch, alles zu organisieren, führe zur Desorganisation; der Versuch, alles zu kontrollieren, führe zu Kontrollverlust.

Man richte Lager ein, aber die Leute wollten zu ihren Freunden, zu ihrer Familie. Man setze Beamte ein, um die Flüchtlinge zu registrieren und zu integrieren, während eben jene Freunde oder Familienangehörige viel besser in der Lage wären, den Neuankömmlingen zu erklären, wo sie sich melden müssen, um einen Asylantrag zu stellen, wie man sich um Sozialhilfe, Ausbildung und Arbeit bemüht. Man macht sich, mit einem Wort, Arbeit, weil man das gute europäische Prinzip der Subsidiarität nicht beachtet. Was die Gemeinschaft erledigen kann, braucht der Staat nicht zu erledigen. Wo die Familie helfen kann, soll sie auch helfen. Wo eine Wohnung bereitsteht, braucht man keine Baracke.

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Natürlich hat nicht jeder, der hier ankommt, Familie oder Freunde in Deutschland. Natürlich widerstrebt es dem deutschen Ordnungssinn, jemanden sozusagen „unbearbeitet“ ins Land zu lassen. Wenn Deutsche das deutsche Einwanderungssystem (oder dessen Fehlen) kritisieren, dann loben sie gern die USA und deren strikte Kriterien, Kategorien und Kontingente. Weniger oft hört man ein Lob der Tatsache, dass fünf Millionen Zuwanderer sich illegal im Land aufhalten, arbeiten, ihre Kinder zur Schule schicken, den Führerschein machen und im Übrigen dem Sozialstaat nicht zur Last fallen. Wie das übrigens in der Türkei zweieinhalb Millionen und im Libanon eine weitere Million Syrer ebenfalls halten.

Wie so oft sind die Beamten vor Ort klüger als die höheren Chargen. Ausgerechnet aus Bayern kommen Berichte von Polizisten, die den zur Feststellung der Personalien, Registrierung usw. in Gewahrsam genommenen Migranten sagen: „Zieht weiter, wir halten euch nicht fest.“ Die griechische und italienische Lösung also. Das entspricht nicht der Seehofer’schen Rhetorik, wohl aber der katholischen Gelassenheit in Ordnungsdingen. Subsidiarität ist nicht zufällig ein Prinzip der katholischen Soziallehre. Ordnung ist nur in Preußen das halbe Leben.

Es ist schon merkwürdig: Eine Million Wohnungen steht in Deutschland leer, aber man baut Flüchtlingslager. Dabei weiß man: In diesen Lagern entstehen – wie überall, wo Menschen zusammengepfercht werden – nicht nur Frustration und Aggression, sondern informelle Strukturen, die bald von den gerissensten und gewissenlosesten Typen unter den Insassen beherrscht werden. Aufnahmelager und Asylantenheime ziehen eben nicht nur Demonstranten an, sondern auch allerlei Rekrutierer aus der Islamisten-, der Drogen- und der radikalen Politikszene. Daran können auch Deutsch- und Integrationskurse nur wenig ändern. Man lernt Deutsch nur im Alltag. Man integriert sich durch Teilhabe.

Viel ist von Parallelgesellschaften und der Clanstruktur der arabischen Gesellschaft die Rede, in der Regel im Zusammenhang mit Kriminalität und religiösem Fanatismus. Von der Schutz- und Hilfestruktur der Familienclans, vom Wert der Parallelgesellschaft als Stützund Fixpunkt in einer fremden Kultur wird hingegen fast nie gesprochen. Eine Einwanderungsgesellschaft muss jedoch lernen, diese Strukturen nicht (nur) als Bedrohung, sondern auch als Ressource wahrzunehmen.

Noch sind wir nicht so weit wie die USA, wo selbst – ja gerade – vom legalen Einwanderer die Zusicherung verlangt wird, die Hilfe der Allgemeinheit nicht in Anspruch zu nehmen, und wo als Garantie dieser Zusicherung ein Bürge gestellt werden muss. Dieses Aussetzen des Sozialstaats für den Neuankömmling widerspricht unserem Denken, das im Zuwanderer den Flüchtling, im Flüchtling den Hilfsbedürftigen, im Hilfsbedürftigen den Hilfsempfänger und im Hilfsempfänger den potenziellen Sozialbetrüger sieht und darum das Registrieren, Ordnen und Zuordnen, das Anstellen, Kasernieren und Verteilen, das Einteilen und Zuteilen in den Vordergrund stellt.

Die Bundeskanzlerin hat wenig Beifall bekommen für ihre Feststellung, heute seien Grenzen nicht hundertprozentig zu schützen. Sie sprach aber nur eine Binsenwahrheit aus. Wer hier legal leben und arbeiten will, stößt auf eine Mauer aus Papier, und die ist ziemlich wirksam. Der Innenminister zeigte sich empört über Leute, die sich aus Auffanglagern in Taxis davonmachen; er könnte eigentlich froh darüber sein. Sie haben Geld ins Land gebracht, sie fahren irgendwohin, wo sie keinen öffentlich gestellten Wohnraum beanspruchen – keine Turnhalle etwa, die für Schulsport gebraucht wird –, wo man sich um sie kümmert, wo sie sich selbst um sich kümmern. Sie wollen arbeiten, leben, lernen, ihre Kinder zur Schule schicken; dazu werden sie sich ja auch mit den nötigen Papieren versorgen müssen.

„Wir schaffen das schon“, aber wir werden uns ändern müssen. Abulaziz Ramadan hat recht: Alles kontrollieren zu wollen, führt zu Kontrollverlust. Dass man das von einem jungen Syrer lernen muss und kann, ist das Schöne am neuen Deutschland.

 

alan.posener@weltn24.de

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Founder and CEO at DOZ International

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